Presseschau
Auf dieser Seite finden Sie "vereinsfremde" Presseartikel.
Artikel rund um unseren Verein finden Sie hier.


Südkurier
Donnerstag, 02. Februar 2006

Die Gefahr von Misshandlung und Vernachlässigung durch Eltern in ländlichen Gebieten wird unterschätzt

Kinderland in Not

VON UWE SPILLE
In der Wohnung war ein Wasserrohr geplatzt. Handwerker rückten an und fanden in den völlig verdreckten Räumen, zwischen leeren Flaschen, Dosen und Verpackungsmüll, einen 14-jährigen Jungen. Er teilte die Wohnung mit dem Vater, einem Witwer.

Entdeckungen wie diese, die gestern aus Frankfurt an der Oder gemeldet wurde, finden in den Medien Beachtung. Die wächst, wenn es um spektakuläre Verfehlungen geht, wie jüngst im Fall eines Jungen, der mit Rotkohl so zugefüttert wurde, dass er erstickte. Doch die besonders drastischen Einzelfälle verstellen allzu oft den Blick auf den tristen Alltag vieler Kinder in deutschen Familien.

Das Bild zeigt viele, zum Teil auf den ersten Blick scheinbar harmlose Facetten. Dazu gehören schlechte Ernährung oder einseitige "Fast-Food"-Kost, das Abschieben vor den Fernseher, Desinteresse der Eltern an der kindlichen Lebenswelt, Gesprächsverweigerung und im schlimmsten Fall massive Einschüchterungen und emotionale Grausamkeiten.

Dazu kann körperliche Gewalt kommen. Die Statistik spricht eine klare Sprache: Zwei von 100 Kindern, die 2004 in ein deutsches Krankenhaus eingeliefert wurden, wiesen eindeutige Zeichen von körperlicher Gewalteinwirkung auf. Nur die Spitze des Eisberges?

Tatsächlich wurde die Diagnose Kindesvernachlässigung in den vergangenen Jahren immer öfter gestellt. Einschlägige Untersuchungen kommen zu alarmierenden Ergebnissen. Selbst wenn nur die Betreuungszahlen der Jugendämter als Datengrundlage dienen, werden im Jahr 100 000 Kinder und Jugendliche vernachlässigt oder misshandelt. Doch die Grauzone ist groß. Laut Schätzungen von Experten wachsen bis zu zehn Prozent aller Kinder unter sieben Jahren - das sind bis zu 500 000 - vernachlässigt auf. Die Brisanz dieser Zahlen wird durch eine repräsentative Studie des TV-Senders Super RTL und des Fernsehvermarkters IP Deutschland aus dem Jahr 2002 verstärkt. Bei einer Befragung von mehr als 1000 Müttern und Vätern bezeichnete rund ein Drittel das Verhältnis zu ihren Kinder mit "gleichgültig".

Schulterzucken herrscht dabei nicht nur in Geringverdiener-Familien oder in Großstädten. Zwar können Gründe für Kindesvernachlässigung auch in Arbeitslosigkeit, Drogensucht oder überforderten alleinerziehenden Eltern gefunden werden. Ein gut bezahlter Job, ein angesehener Beruf oder ein hübsches Reihenhaus sind jedoch kein Garant für eine, im wahrsten Sinne des Wortes gute Kinderstube. Die Fähigkeit, Kinder zu zeugen, beinhaltet nicht automatisch die Reife, für diese auch angemessene Verantwortung übernehmen zu können. Insbesondere Erzieherinnen in Kindergärten und Kindertagesstätten sind mit dem Thema Kindesvernachlässigung vertraut. Sie sind oft die ersten, die einschlägige Symptome an Kindern feststellen. Wenn ein Kind morgens des öfteren ohne gefrühstückt zu haben in den Kindergarten gebracht wird, bei Minustemperaturen keine angemessene Kleidung trägt oder häufig zu spät von den Eltern abgeholt wird, deutet dies, so die übereinstimmende Aussage von Erzieherinnen, auf eine schwierige Situation im Elternhaus hin.

Aber auch eine großzügige Versorgung mit materiellen Dingen wie Spielsachen heißt nicht, dass das seelische Wohl des Kindes gesichert ist. Das schöne Wort der "Wohlstandsverwahrlosung" wird hierfür gern verwendet. Meist versuchen die Erzieherinnen zuerst in Gesprächen mit den Eltern eine Verbesserung des Zustands zu erreichen. Doch sind sie nicht selten dennoch die ersten, die den Kontakt zu Jugendämtern aufnehmen - zum Wohl des Kindes, aber auch der Eltern selbst.

"Seit ich das Amt hier innehabe, gab es zum Glück noch keinen Fall mit Todesfolge bei uns in der Region", sagt der Leiter des Kreisjugendamtes im Schwarzwald-Baar-Kreis, Manfred Nietsch. Allerdings, schränkt er ein, gebe es auch im idyllisch anmutenden und ländlichen Kreisgebiet Familien, in denen "es eng wird", wie Nietsch es ausdrückt. Kindesvernachlässigung, so Nietsch, ist ein allgemein unterschätztes Thema. "Die Frage ist doch weniger, warum wir so wenig Kinder in Deutschland haben, sondern die Frage ist, wie wir uns um die, die da sind, kümmern", erklärt der Jugendamtsleiter.

Und da gibt es in seinen Augen Handlungsbedarf. "Wenn ich von den niedrigsten statistischen Zahlen, die für das Bundesgebiet angenommen werden, ausgehe, muss ich mit rund 700 Kindern bis zu sieben Jahren allein im Schwarzwald-Baar-Kreis rechnen, die vernachlässigt aufwachsen", erläutert Nietsch vorsichtig.

Schockierend? Die "heile Welt", so Nietsch, sei in den ländlichen Kreisen des südlichen Baden-Württemberg eben nicht zu finden, auch wenn hier die Selbsthilfekräfte in den Familien im Gegensatz zur Lage in den Ballungsräumen wie Stuttgart oder Mannheim wohl höher zu sein scheinen. "In den Großstädten ist die Mentalität des Wegschauens eher stärker ausgeprägt", erläutert Nietsch.

Grundsätzlich hält er eine Verpflichtung für Eltern, mit ihren Kindern in den ersten vier Lebensjahren regelmäßig zum Kinderarzt zu gehen, für sinnvoll. "Hinschauen", wie er es nennt, ist für Nietsch ein Schlüssel, um früh in eine mögliche Vernachlässigungssituation eingreifen zu können.

Der Konstanzer Kinderarzt Wolfgang Gempp hält es zwar für wünschenswert, dass die Teilnahme an den Untersuchungen gesteigert wird. Er warnt indessen vor übereilten Hoffnungen. "Es wäre ein Fehler, zu glauben, dass ein Arzt in der Lage ist, bei einer 20-minütigen Untersuchung Vernachlässigung aufdecken zu können", sagt der Vizevorsitzende des badischen Landesverbands der Kinder- und Jugendärzte. Denn der allgemein unter dem Kürzel "U 1" bis "U 9" bekannte Arztbesuch sei nur eine Entwicklungsstand-Untersuchung. Wenn der Körper eines Kindes keine Blessuren aufwiese, so Gempp, sei es für den Arzt "gar nicht möglich", Missstände in der Kindeserziehung zu erkennen. Daher hält er die Idee der Pflichtuntersuchung für "unausgereift".

Vielmehr ist es nach Meinung des Kinderarztes notwendig, bereits Hebammen in die Früherkennung von Mängeln einzubinden, weil jene das soziale Milieu der Eltern kennen. Auch spielten die Erzieherinnen als Ansprechpartnerinnen für Jugendämter eine bedeutende Rolle. Das sieht auch Jugendamtsleiter Nietsch so: "Die sind direkt im Leben und nah an den Eltern. Doch sie bedürfen auch Unterstützung durch uns." Sein Wunsch ist deshalb eine stärkere Kooperation mit den Kindergärten und die Bildung von Netzwerken zwischen den für Kinder zuständigen Institutionen.

Wenn schon Geld für Familien ausgegeben wird, dann sollte dies seiner Meinung nach in einen Ausbau der verlässlichen Betreuungsangebote gehen. "Es sind doch die bröselnden Verlässlichkeiten in den Familien, die gesellschaftliche Neuorientierung zwingend nötig macht", sagt Manfred Nietsch.

Und wenn dies "nur" die Auswirkung hätte, dass Kinder, die daheim wenig Fürsorge und Beachtung erhalten, zumindest in einer Betreuungseinrichtung kindgerecht behandelt werden. Damit, so Nietsch, wäre schon viel passiert im Kampf gegen die Kindesvernachlässigung.

Modellversuche Der Vorschlag, die im Moment freiwilligen "U"-Untersuchungen von Kindern zur Pflicht zu machen, wird noch kontrovers diskutiert. Während die SPD kürzlich eine entsprechende Gesetzesinitiative angekündigt hat, zeigte sich Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen skeptisch.

In zwölf Stadt- und Landkreisen Baden-Württembergs soll auf Veranlassung des inzwischen zurückgetretenen Sozialministers Andreas Renner (CDU) in diesem Jahr eine neue Form der Einschulungsuntersuchung getestet werden. Sie wird in zwei Stufen eineinhalb Jahre vor der Einschulung und am Ende der Kindergartenzeit vorgenommen. Die Kinder werden von Juni oder Juli an gemessen und gewogen; sie sollen einen Seh- und Hörtest absolvieren, und auch auf das Sprachvermögen wird geachtet. Assistentinnen der Gesundheitsämter kommen in die Kindergärten. Neben medizinischer Untersuchung sollen die Erzieherinnen Auskunft über den geistigen Entwicklungsstand der Kinder geben. Ärzte treten erst bei Problemen in Aktion. Bei der zweiten Untersuchung soll der Schwerpunkt auf dem Nachweis der Schulfähigkeit des Kindes liegen. Durch die Trennung der Untersuchungen soll Mängeln früher begegnet werden können. Bisher wurden Kinder drei Monate vor der Einschulung von Amtsärzten untersucht.
(SK)

In unserem Forum können Sie Ihre Meinung zu diesem Artikel äußern.
Verweisen Sie dabei bitte auf http://www.vafk-sbh.de/FremdePresse/Artikel196.html

Zum Seitenanfang