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Südwest Presse
Samstag, 08. Februar 2003

SEXUALSTRAFTÄTER / Studie belegt, dass 20 Prozent aller psychatrischen Expertisen wertlos sind

Schlampige Gutachten, anspruchslose Richter


Jedes fünfte Gutachten über Sexualstraftäter ist mangelhaft. Zu diesem Fazit kommen zwei Wissenschaftler, die im Auftrag der Schweriner Landesregierung 156 psychiatrische Expertisen untersucht haben. Auch die Justiz bekommt ihr Fett weg: Sie sei viel zu anspruchslos.

CHRISTOPH MAYER

ULM / ROSTOCK Jedes fünfte psychiatrische Gutachten über Sexualstraftäter weist "eklatante Mängel" auf. Jörg Fegert, ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Ulm, kommt nach Überprüfung von mehr als 150 Expertisen zu diesem Schluss. Die Aussage birgt Zündstoff. Spektakuläre Fälle, in denen Triebtäter aufgrund einer günstigen Prognose vorzeitig auf freien Fuß gesetzt wurden und sofort wieder straffällig wurden, gab es in der Tat immer wieder.

Jedes fünfte Gutachten mangelhaft: Zwar findet Professor Fegert, dass diese Quote "keine Lappalie ist". Der Leiter der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiatrie, selbst als Gutachter tätig, mag andererseits kein Nestbeschmutzer sein. Er gibt der Justiz eine erhebliche Mitschuld. Und er ist sich sicher: "Das Problem lässt sich auf politischer Ebene lösen."

Gemeinsam mit Professor Detlef Schläfke aus Rostock nahm Fegert im Auftrag der Schweriner Landesregierung 156 forensisch-psychiatrische Gutachten über Sexualstraftäter sowie die dazugehörigen Gerichtsurteile unter die Lupe. Ist das Gutachten gegliedert, ist es sprachlich verständlich formuliert? Gibt es überhaupt eine konkrete Fragestellung? Findet sich eine Diagnose, die ins psychiatrische Klassifikationssystem passt? "Wir haben nur die gröbsten formalen Kriterien untersucht", sagt Fegert.

"Checkliste" für Juristen

Die vor wenigen Wochen auf einem Symposium in Rostock vorgestellten Ergebnisse muten ernüchternd an. In knapp 42 Prozent aller Fälle sei es nicht nachvollziehbar gewesen, wie der Gutachter zur Diagnose kam, berichtet der Mediziner. Für Fegert selbst unbegreiflich: Rund 20 Prozent aller Gutachten gingen nicht auf die Sexualgeschichte des Täters ein. "Da wurden noch nicht einmal vorherige Partnerschaften oder sexuelle Phantasien des mutmaßlichen Täters abgefragt." Am bittersten ist dem Forscher-Duo jedoch aufgestoßen, dass jedes dritte Gutachten die psychische Befindlichkeit des Täters zum Tatzeitpunkt außer Acht ließ. Unter dem Strich kamen Fegert und Schläfke auf eine Durchfallquote von 20 Prozent, eine Zahl, die nach Angaben des Ulmers ohne Probleme auf das Bundesgebiet übertragbar ist.

Mutwillige Schlamperei oder gar bösen Willen will Fegert der Zunft der psychiatrischen Gutachter allerdings nicht unterstellen. Die Verantwortung für die Misere liegt seiner Meinung nach bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften. "Sie sind zu anspruchslos."

In mehr als 95 Prozent aller Fälle seien die gutachterlichen Empfehlungen übernommen worden, in gut 57 Prozent sogar "wörtlich" in die Urteilsbegründung mit eingeflossen. Die kritische Reflexion bleibt dabei meist auf der Strecke.

Hinzu komme, dass Staatsanwaltschaften oft Expertisen ohne zielgerichtete Fragestellungen anforderten, nach der Devise: "Machen Sie mal ein Gutachten."

Zwingend notwendig sei deshalb, die Kommunikation zwischen Justiz und forensichen Gutachtern zu verbessern, glaubt Fegert. Für die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern haben er und Schläfke deshalb eine vierseitige "Checkliste" erarbeitet, die an alle Gerichte und Staatsanwaltschaften des nordöstlichen Bundeslands herausgegeben werden soll. Darin werden "kurz, knapp und in verständlicher Sprache" (Fegert) Mindestkriterien für psychiatrische Gutachten formuliert. "Wenn Richter und Staatsanwälte vorher genau wissen, worauf sie zu achten haben, wird sich auch die Qualität vieler Gutachten rasch verbessern", glaubt der Mediziner.

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